Personalgewinnung im Pflegebereich - Blickwechsel nötig
8000 neue Fachkraftstellen in der Pflege hat die Große Koalition mit dem "Sofortprogramm Pflege" versprochen. "Der Pflegenotstand ist längst Realität. Daran werden 8000 neue Stellen nichts ändern, selbst wenn sie sofort umgesetzt würden", sagt Sabine Jung, Leiterin der Abteilung Diakonisches Profil und Pflege im Diakonischen Werk Pfalz dazu. Über Gründe für und mögliche Wege hinaus aus dem Pflegenotstand haben wir mit Sabine Jung und Andrea Menn, Leitende Referentin für die Arbeitsgemeinschaft Ökumenische Sozialstationen in der Pfalz und Saarpfalz, gesprochen. Dieser Frage ging auch die Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft der Ökumenischen Sozialstationen
Diakoniepräsident Ulrich Lilie sagte zum Start der Großen Koalition, das Thema Pflege sei eine Messlatte für den politischen Gestaltungswillen. Gesundheitsminister Spahn hat in einem Sofortprogramm Pflege 8000 neue Fachkraftstellen versprochen. Problem erkannt – Problem gebannt?
Sabine Jung: Sicher nicht. Der Pflegenotstand ist längst Realität. Daran werden 8000 neue Stellen nichts ändern, selbst wenn sie sofort umgesetzt würden. Allein in Rheinland-Pfalz fehlen aktuell mehr als 2000 Pflegefachkräfte. Prognosen gehen für das Jahr 2020 von 2900, für das Jahr 2025 von 4000 und für 2030 von 4500 fehlenden Pflegefachkräften aus. Wir haben heute schon Sozialstationen, die keine neuen Kunden mehr annehmen können, weil das Fachpersonal fehlt.
Was macht den Pflegeberuf so unattraktiv, dass es nicht genug Menschen gibt, die ihn ausüben möchten?
Andrea Menn: Ich zucke immer ein bisschen zusammen, wenn alle behaupten, der Beruf sei unattraktiv und deshalb gebe es den Pflegenotstand. Hier müssen wir sehr aufpassen, dass wir nicht selbst zu einem negativen Image der Pflegeberufe beitragen. Natürlich stimmt es, dass die Bezahlung angesichts der Belastungen, die dieser Beruf mit sich bringt, als unattraktiv empfunden wird. Dazu kommen noch die Rahmenbedingungen wie Schicht- und Wochenenddienste und die körperliche Belastung. Aber dieser Beruf ist abwechslungsreich, macht Spaß, hält jeden Tag neue Begegnungen mit Menschen bereit und bietet so die Chance, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Der Beruf ist ausgesprochen sinnvoll und notwendig für die Gesellschaft und damit sinnstiftend für die, die ihn ausüben. Das ist in meinen Augen attraktiv. Abgesehen davon, dass unsere ökumenischen Sozialstationen ausnahmslos nach einem sehr guten Tarif zahlen.
Worin sehen Sie dann die Ursachen für den Pflegenotstand?
Menn: Zum einen in der demografischen Entwicklung, bei der zwei Trends parallel laufen: Immer mehr Altenpflegerinnen scheiden altersbedingt aus dem Beruf und immer mehr Menschen sind auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Zum anderen findet mit dem Generationen- auch ein Mentalitätswandel statt. Pflegeberufe haben traditionell einen bestimmten Typus Mensch angesprochen: die aufopferungsvolle, hilfsbereite, intrinsisch motivierte Frau.
Und die gibt es heute nicht mehr?
Menn: Ich bitte, das nicht falsch zu verstehen: Ich möchte fast sagen: Zum Glück! Die Motivation, einen Pflegeberuf zu ergreifen, ist heute eine ganz andere. Wir haben es mit selbstbewussten Bewerberinnen und Bewerbern zu tun, die viel Wert auf persönliche Freiheit und faire Arbeitsbedingungen legen und das einfordern. Das ist gut so! Solche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf sich und ihre Ressourcen achten, bleiben auch länger gesund.
Als Reaktion auf die eben beschriebenen Trends hat die Arbeitsgemeinschaft Ökumenische Sozialstationen, deren Geschäftsstelle bei der Diakonie Pfalz angedockt ist, einen Fachtag zum Thema Personalgewinnung veranstaltet.
Jung: Ja, denn wir müssen uns heute als attraktiven Arbeitgeber präsentieren und können nicht darauf warten und hoffen, dass sich morgen – eventuell – die Rahmenbedingungen für die Pflegeberufe verbessern werden.
Welche Erkenntnisse nehmen Sie mit?
Jung: Wir müssen in der Personalgewinnung viel kreativer werden. Wir sprechen nicht mehr eine bestimmte Zielgruppe an, sondern ganz verschiedene. Wie auch der Pflegeberuf an sich sehr vielfältig ist. Gesucht werden ja nicht nur Pflegefachkräfte, sondern auch AlltagsbegleiterInnen oder Hauswirtschaftskräfte.
Wie kann das gelingen?
Jung: Kurz gesagt, müssen wir sowohl unsere Ansprache an potentielle Bewerber und Bewerberinnen als auch die Kanäle, über die wir das ausspielen, individualisieren.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Jung: Eine 35jährige Quereinsteigerin mit zwei Kindern bringt andere Voraussetzungen mit und hat andere Anforderungen und Bedürfnisse an eine neue Stelle als eine gerade examinierte Fachkraft ohne familiäre Verpflichtungen. Und als Anbieter freier Stellen müssen wir uns fragen: Was braucht diese Bewerberin? Das ist ein komplett anderer Blick auf den gesamten Prozess der Personalgewinnung. Der Bewerber oder die Bewerberin ist kein Bittsteller, sondern ein Kunde, eine Kundin. Und diesen müssen wir ein passgenaues Angebot machen.
Wie lässt sich das in die Tat umsetzen?
Jung: Indem wir neben klassischen Methoden neue Werkzeuge einsetzen. Wir müssen dahin, wo unsere Zielgruppen sind. Und wenn die sich in Facebook oder Instagram tummeln und per WhatsApp kommunizieren, dann müssen wir sie eben dort ansprechen oder ermöglichen, diese Kanäle im Bewerbungsprozess zu nutzen. Das Stichwort hierfür heißt digitales Recruiting. Die Diakonie Deutschland hat dazu das Pilotprojekt Talentry gestartet. Das funktioniert unter dem Motto „Mach Freunde zu Kollegen“ und setzt auf die Netzwerke der eigenen Mitarbeitenden. Ein weiteres Beispiel ist die aktuelle Kampagne MakeADifference der Pflegegesellschaft Rheinland-Pfalz. Ganz wichtig ist darüber hinaus die Wertschätzung. Die fängt bei der Formulierung einer Stellenausschreibung an und geht selbstverständlich nach Eingang einer Bewerbung weiter – mit einer prompten Eingangsbestätigung und der persönlichen Kontaktaufnahme.
Das Gespräch führte Eva Stern