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Pressemeldungen

Schockierende Bilanz nach einem Jahr der Machtübernahme durch die Taliban

Arbeitsgemeinschaft der Diakonie, Flüchtlingsrat und Initiativausschuss für Migrationspolitik fordern gefährdete Menschen aus Afghanistan weiter aufzunehmen.

Nach der Machtübernahme der Taliban am 16. August 2021 und dem Ende der chaotischen Evakuierungsaktionsaktion durch die internationale Staatengemeinschaft am 26. August 2021 blieben viele Tausend gefährdete Menschen in Afghanistan zurück. Ihre Namen sind dem Auswärtigen Amt und anderen Bundesministerien gemeldet worden und bekannt.

Einige haben es inzwischen aus eigener Kraft oder mit Hilfe des großen Engagements von Nichtregierungsorganisationen wie z.B. der "Kabul Luftbrücke", dem "Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte" oder von Privatinitiativen außer Landes geschafft, andere wurden nachweislich von den Taliban ermordet. Wer jetzt noch im Land ist, muss sich verstecken und regelmäßig den Aufenthaltsort wechseln, um so der Willkür der neuen Machthaber zu entgehen.

"Es ist eine schockierende Bilanz, die wir ziehen müssen", resümiert Albrecht Bähr, Sprecher der AG Diakonie Rheinland-Pfalz. "Bei den Zurückgelassenen handelt es sich um Ortskräfte, die deutschen Ministerien geholfen haben, um Familienangehörige hier lebender Afghanen, aber auch um Menschen, die sich während der letzten zwanzig Jahre für Demokratie und Menschenrechte in Afghanistan eingesetzt haben. Diesen Zustand halte ich für schlichtweg unerträglich", so Bähr weiter.

Nach der Machtübernahme durch die Taliban gingen die Evakuierungen von ehemaligen Ortkräften und Menschenrechtsaktivist*innen aus Afghanistan und den Nachbarstaaten zwar weiter, aber viel zu langsam und nach viel zu bürokratischen Kriterien. Statt sich an der tatsächlichen Gefährdung der Menschen zu orientieren, erging und ergeht die Bundesregierung sich weiterhin in Formalitäten.

"Die Taliban scheren sich aber nicht um Formalitäten", kritisiert Annika Kristeit, Referentin beim Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz e.V. "Sie verfolgen alle, die sich in den letzten Jahren in Afghanistan für Menschen- und Frauenrechte engagiert haben und alle, denen sie unterstellen, den internationalen Truppen geholfen haben. Sie interessieren sich nicht für das enge Verständnis von ‚Familienangehörigen‘ im deutschen Recht, sondern sie jagen alle, die sie mit den vermeintlichen ‚Verräter*innen‘ in Verbindung bringen", so Kristeit weiter.

Viele dieser Menschen warten nach einem Jahr immer noch verzweifelt auf eine Aufnahmezusage für Deutschland oder die Möglichkeit der Ausreise.

"Die Bundesregierung kennt die Namen der Gefährdeten und sie bleibt in der Verantwortung, die ehemaligen Unterstützer*innen deutscher Organisationen und Menschenrechtsaktivist*innen so schnell wie möglich zu evakuieren", erklärt Torsten Jäger, Geschäftsführer des Initiativausschusses für Migrationspolitik Rheinland-Pfalz e.V. "Daneben müssen unbürokratische Aufnahmeprogramme etabliert werden, um weitere gefährdete Menschen aus Afghanistan zu retten. Bisher ist es in dieser Hinsicht bei folgenlosen Absichtserklärungen geblieben", so Jäger weiter.

Aus der Sicht der drei Organisationen steht die Bundesregierung in der Pflicht, die schnelle und unbürokratische Aufnahme von ehemaligen Unterstützer*innen deutscher Organisationen, Menschenrechtsaktivist*innen und Familienangehörigen in Deutschland lebender Afghan*innen durch folgende Maßnahmen zu gewährleisten:

  • Schnelle und unbürokratische Erteilung von schriftlichen Aufnahmezusagen für gefährdete Personen sowie Ausweitung der Ausstellung humanitärer Visa nach §22 Satz 2 AufenthG;
  • Umfassendes und auskömmlich finanziertes Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Afghan*innen (auch aus Anrainerstaaten) nach §23 Abs. 2 AufenthG;
  • Zustimmung des Bundesinnenministeriums zu Aufnahmeprogrammen der Länder für besonders gefährdete Personen oder Familienangehörige hier lebender geduldeter Afghan*innen;
  • Gewährleistung des schnellen und unbürokratischen Familiennachzugs zu in Deutschland lebenden Afghan*innen;
  • Unkomplizierte digitale Visumsbeantragung bei den Auslandsvertretungen in den Nachbarstaaten Afghanistans sowie Verstärkung von Personal und Infrastruktur, damit Anträge ohne zeitlichen Verzug bearbeitet werden können;
  • Personen, die derzeit nicht über einen gültigen afghanischen Pass verfügen, müssen von den Auslandsvertretungen gleichzeitig mit dem Visum auch einen "Reiseausweis für Ausländer" ausgestellt bekommen.

Zugleich mahnen die drei Organisationen bei der Bundesregierung die sofortige Herstellung von Aufenthaltssicherheit für alle bislang in Deutschland lediglich geduldeten Afghan*innen an, weil sie auf unabsehbare Zeit keine Rückkehrperspektive in ihr Herkunftsland haben.

An die rheinland-pfälzische Landesregierung richten sie wiederholt die dringende Bitte, alle ihr zur Verfügung stehenden aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, um Afghan*innen im Land umfassende Aufenthaltssicherheit zu gewähren und - gegebenenfalls in Kooperation mit weiteren Bundesländern - ein eigenständiges Landesaufnahmeprogramm für Afghan*innen zu etablieren.


Hintergrund:
Der überstürzte "Abzug" der alliierten Truppen aus Afghanistan, der am 26.08.2021 – 10 Tage nach dem Fall von Kabul – beendet wurde, war ein völliges Desaster - sei es in der Einschätzung und Wahrnehmung der Lage durch die politisch Verantwortlichen, sei es bei der operativen Durchführung der Evakuierung.

Wie realitätsfern die Einschätzung der Bundesregierung noch im Juni 2021 war, zeigt das Plenarprotokoll einer Bundestagssitzung vom 9. Juni 2021 eindrucksvoll. Außenminister Maas im Bundestag: "All diese Fragen haben ja zur Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban das Zepter in Afghanistan in der Hand haben werden. Das ist nicht Grundlage meiner Annahmen."

Laut Antwort der Bundesregierung* auf eine Kleine Anfrage der Fraktion "DIE LINKE" gab es seit August 2021 für 33.263 Menschen aus Afghanistan Aufnahmezusagen. 21.399 Afghan*innen wurden seitdem nach Deutschland geholt. Darunter sind rund 3.600 Ortskräfte mit deren Familien, insgesamt knapp 16.800 Menschen. Aufgenommen wurden zudem fast 1.300 Menschen mit Angehörigen, die nach der Machtübernahme der Taliban als besonders gefährdet gelten, weil sie sich für Menschenrechte, Demokratie und "westliche Werte" eingesetzt haben.

11.864 Menschen standen demnach am 10. Juni auf der Liste derer, die noch aus Afghanistan geholt werden sollen oder sich, sofern ihnen die Flucht dorthin gelungen ist, derzeit in einem Nachbarstaat Afghanistans aufhalten müssen. Das ist fast ein Drittel aller Gefährdeten, die seit der Machtübernahme der Taliban im vergangenen August eine Aufnahmezusage aus Deutschland erhalten haben.

Darüber hinaus sind noch keine konkreten weiteren Schritte zur Aufnahme von gefährdeten Personen aus Afghanistan bekannt geworden. Auch das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung fest vereinbarte Bundesaufnahmeprogramm ist bisher noch nicht über den Planungsstand hinausgekommen.

* https://dserver.bundestag.de/btd/20/012/2001224.pdf